Der letzte Wildpferdefänger im Emscherbruch

Es ist schon über hundert Jahre her, daß die Wildpferde noch rudelweise wie die Hirsche den weiten Emscherbruch bei Essen durchzogen. Heute gibt es in ganz Europa nur noch eine einzige Herde der selten gewordenen Wildpferde im Merfelder Bruch bei Dülmen. Einmal im Jahr, am letzten Samstag im Mai, werden dort die einjährigen Hengste eingefangen. Dann kommen tausende von Zuschauern zusammen, um die furchtlosen Wildpferdefänger bei ihrer gefährlichen Arbeit zu beobachten.
Wildpferdefänger, die man auch „Pferdestricker" nannte, gab es früher auch in Essen. Vom letzten dieser Zunft, der auch der kühnste gewesen sein soll, berichtet uns nur noch eine Sage. Dieser letzte Pferdestricker soll so stark gewesen sein, daß unter dem Druck seiner Hand selbst das stärkste Pferd auf die Knie sank. Ein Pferd, dem er den Fangstrick um den Hals geworfen hatte, war ihm hilflos ausgeliefert, denn seine starke Faust gab die Fangleine nicht mehr frei, während er mit dem anderen Arm einen Baum umklammert hielt, der ihm Halt gewährte.
Nach einem langen Leben voll kühner Pferdestrickertaten fühlte er die Gebrechen des Alters, doch wollte er darum seinen Beruf noch lange nicht aufgeben. Als eines Tages wieder einmal der Jagdbefehl vom Wildgrafen kam, zögerte er nicht, die Fangleine von der Wand zu nehmen und in den Emscherbruch hinauszuziehen. Diesmal galt die Jagd einem besonderen Pferd. Der Wildgraf hatte befohlen, den schwarzen Hengst zu fangen, der an der Spitze eines Rudels seit langem die Gegend unsicher machte. Unser Pferdefänger kannte die Wildbahnen wie kein anderer, und er wußte, zu welcher Zeit das von dem schwarzen Hengst geführte Rudel gewöhnlich den dichten Buchenwald, der an einem einsamen Emscherarm gelegen war, durchtrabte. Dort im Buchenwald schwang er sich dann in das Geäst eines Baumes, wo er im dichten Laubwerk den wachsamen Blicken der Pferde entzogen war.
Nach längerem Warten tauchte in der Ferne das Pferderudel auf. Deutlich erkannte der Pferdestricker das prachtvolle schwarze Leittier, das den Stuten um eine Strecke vorauseilte, dann stehenblieb und prüfend die Nüstern hob, um dann geradewegs dem Buchenwald entgegenzutraben. Der Pferdestricker faßte den Fangstrick locker mit der rechten Hand, prüfte noch einmal den Knoten, der die Schlinge hielt, schlang das Ende des langen Seils um seine Brust und kontrollierte noch einmal das Gewicht des Fangseils, um seines Wurfes sicher zu sein.
Das schwarze Leittier hielt unmittelbar vor der Buche an und blickte prüfend nach allen Seiten. Das Rudel in seinem Gefolge trabte in wilden Sprüngen umher und wirbelte den Boden auf, daß er dröhnte und Erdfetzen in alle Richtungen flogen. Aber da stutzten sie mit plötzlichem Gewieher. Der schwarze Hengst hatte fremden Geruch gewittert und stampfte unruhig auf. In diesem Augenblick warf der Pferdestricker das Fangseil mit zielsicherer Hand. Der Hengst bäumte sich auf und schlug wild mit den Vorderbeinen, um die Schlinge abzustreifen, die sich um seinen Hals straffte. Trotzig kämpfte er gegen seine Fessel, doch vergebens. Schon begann das straffe Seil ihm die Luft abzuschnüren. Da senkte der Hengst den stolzen Kopf, spannte die Muskeln und setzte zum Lauf an.
Durch den überraschenden Antritt des Pferdes wurde der Druck auf dem Seile immer stärker, und mit Entsetzen erkannte der Pferdestricker, daß er einen Fehler gemacht hatte, als er das Ende des Fangstrickes um seinen Körpergeschlungen hatte: Durch das plötzliche Reißen am Seil wurde er vom schützenden Ast zu Boden gerissen, wo er aber keinen Halt mehr finden konnte. Und so jagte das gefesselte Tier hinein in die Heide und schleppte den Wildpferdefänger am Seile hinter sich her. Dieser hätte das Pferd gerne freigegeben, aber während er in rasendem Tempo über Stock und Stein gezerrt wurde, gelang es ihm nicht, das Seilende von seinem Körper zu lösen. Er versuchte deshalb, mit den Händen Baum oder Strauch zu ergreifen, doch immer wieder fuhren die blutigen Hände ins Leere oder entwurzelten die krampfhaft erfaßten Sträucher, und so ging die rasende Fahrt weiter durch Wasser, Wald und Wiese, durch dorniges Strauchwerk und Gebüsch, immer tiefer hinein in die Wildnis des Emscherbruches.
Allmählich jedoch erlahmten die Kräfte des Hengstes. Als der halb bewußtlose Pferdestricker dies bemerkte, umfaßte er mit einer letzten verzweifelten Anstrengung mit dem rechten Arm einen schlanken Baumstamm. Ein Ruck - und mit übermenschlicher Kraft gelang es ihm, sich am Baume zu halten, den Hengst zurückzureißen und den Strick so nahe an den Baum zu bringen, daß er ihn dreimal um den Stamm winden konnte.
Dann stand das Pferd mit bebenden Flanken, schweißtriefend und über und über mit Schaum bedeckt. Der Pferdestricker trat heran, fuhr ihm in die Nüstern und zwang es zu Boden. Schnell schwang er das Ende des Strickes als Zaum und Zügel um den Kopf des Tieres und stellte sich über den schlanken Leib. Als nun der Hengst mit einem jähen Satz aufsprang, saß der Stricker auf seinem Rücken. Da mochte das Pferd so viele Bocksprünge aufführen wie es wollte, da mochte es noch so schnell davongaloppieren - dem starken Schenkeldruck des erfahrenen Reiters war es schließlich unterlegen.
Stolz ritt der alte Stricker auf dem gezähmten Hengst nach Hause, wo ihm ehrfurchtsvolle Rufe entgegentönten. Voller Hochachtung spendeten ihm alle Beifall, ihm, dem es als ältestem Wildpferdfänger gelungen war, das stolzeste Pferd der Wildbahn zu fangen und zu zähmen.
Das war der letzte Pferdestricker im Emscherbruch, denn bald nach diesem Geschehen zogen die Pferderudel in ein anderes Gebiet,wohin ihnen die Pferdefänger nachfolgten. In Essen aber sprach man noch lange von der Kraft und dem Mut des alten Wildpferdefängers, der sich nach seinem Abenteuer mit dem schwarzen Hengst nie mehr auf die Jagd begeben hatte.

(Quelle: Schulze, W., Die schönsten Sagen aus Essen, Band 2, s. 40 ff)            zurück